Von Verena Bodenstein
Im Jahr 1904 wurde Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ pünktlich zu dessen 44. Geburtstag in Moskau uraufgeführt. Eine über 100 Jahre alte melancholische, tragische und gesellschaftkritische Komödie über den Umbruch vom Feudalismus zum Kapitalismus. Doch in Elina Finkels bereits zwölfter Aachener Inszenierung sehen wir kein Russland von 1900, sondern eher von heute. Die Dramaturgie übernahm Inge Zeppenfeld. Sitzend und mit einer Wunderkerze in der Hand begrüßt die Figur Dunjascha (Marie Hacke) die Besucher des Hauses.
Ganz naiv, zündet sie immer wieder die Kerze an, während die Gäste nach ihren Plätzen suchen. In etwas weiterer Entfernung sitzt der Gutsbesitzer Jermolai Alexejewitsch Lopachin (Tim Knapper) in ernster Haltung auf der Bühne. Das Stück beginnt und der Zuschauer findet sich zum Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Kirschgut wieder. Die Familie der Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranewskaja (unglaublich herausragend Katja Zinsmeister) befindet sich in einer Notlage. Die Familie ist finanziell am Ende und der verschwenderische Lebensstil bringt keine Lösung herbei. Die einzige Hoffnung scheint die Zwangsversteigerung zu sein.
Vorsicht: Chaos
Doch schnell wird klar, der Kirschgarten ist mehr als nur eine Einnahmequelle. An ihm hängen Erinnerungen, wie der Verlust des Sohnes und Bruders der Familie, der im nahegelegenen Fluss ertrunken ist. Lopachin, der Gutsverwalter, will das Gut zu einem Ferienpark errichten und somit den Kirschgarten abholzen lassen um der finanziellen Misere zu entkommen. Doch das lehnt die Familie ab. Teschechows Charaktere und das, was Finkel aus ihnen gemacht hat, verstricken sich in emotionale Konflikte und verdrängen lieber das naheliegende Geschehen, anstatt eine konstruktive Lösung für ihre Probleme zu finden und die Rettung des Kirschgartens zu ermöglichen.
So findet man sie eher Kirschen essend oder ausgelassen feiernd wieder, als nachdenklich und reflektiert. Das Ensemble zeigt sich spielfreudig und extrovertiert. Das zeigt sich besonders in der Rolle der Außenseiterin Charlotta, die Finkel kurzerhand mit Karl Walter Sprungala besetzt, der dem Publikum das ein oder andere Lachen entlockt.
Achtung: Apell
Die Beziehung zwischen Besucher und Darsteller ist während des Stücks eng geknüpft. So kann es vorkommen, dass sich der ein oder andere gespuckte Kirschkern vor den Füßen der Zuschauer wiederfindet. Ebenfalls wird das Publikum durch Fragen in das Stück eingebunden, die tatsächlich auf sympathische Weise von einigen Zuschauern beantwortet werden. Der Höhepunkt dieser Interaktionen stellt den Verkauf von Kirschbäumen dar. Mitten im Stück wird das Publikum dazu aufgerufen, an einer neuen Gartengründung teilzunehmen und die zu verkaufenden Kirschbäume per Handzeichen oder Aufruf zu erwerben. Auf diese Weise wird ein Garten in ganz Aachen und Umgebung gegründet. Dadurch wird dem Zuschauer nicht nur ein alternatives und positives Ende für Tschechows Stück geboten, sondern er erhält die Chance durch seine Handlung die Welt ein kleines Stück zu verbessern. Ein ungewöhnliches Theaterstück mit starkem Appell an den Zuschauer selbst. \
13., 18.+26.5.
„Der Kirschgarten“
19.30 Uhr, Bühne, Theater Aachen
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