„Ach, diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle – ich leide!“ Ja, der junge Werther leidet fürchterlich. Der Jurastudent hat die Stadt verlassen und ist für einige Zeit aufs Land gezogen. Dort verliebt er sich in Lotte. Doch Lotte ist schon vergeben. An Albert. Deshalb leidet der junge Werther fürchterlich unter Liebeskummer. So schlimm, dass er schließlich den Freitod wählt. Um sich selbst für Lotte aufzugeben. So weit, so bekannt. Werther, der selbstlose Liebende? Wohl eher der selbstverliebte Egozentriker. Daran lassen auch Regisseur Nick Hartnagel und Dramaturgin Gesa Lolling mit ihrer ausgefallenen Inszenierung des Stücks in der Kammer keinen Zweifel. Ihr Werther (Alexander Wanat) findet sich in seiner Wahlheimat Walheim nicht zurecht. Sein Versuch, einen Platz im normalen Leben zu finden, scheitert gänzlich. Die Dorfbewohner interessieren sich nicht die Bohne für ihn. Allenfalls „Bekanntschaften, keine Gesellschaft“ findet er. Immer wieder drängt er sich zwischen die Dorfbewohner (BürgerChor Aachen).
Platz machen sie ihm nicht. Gewartet hat keiner auf ihn. Auch nicht Lotte (Luana Bellinghausen). Mit ausgeprägtem Desinteresse reagiert sie auf seine Avancen. Doch der Werther wäre nicht der Werther, wenn das Maß aller Dinge für ihn nicht nur eines wäre: das eigene Empfinden, das eigene Herz. Wen kümmert’s da, dass der Kerl heillos übertreibt. Sich in seinem Leid suhlt, ohne dass es Anlass dafür gäbe. Ab und zu scheint er einer Selbsterkenntnis nahe, doch letztlich überwiegt immer die egomane Selbstdarstellung und -zelebrierung. Die in die gänzliche Selbstaufgabe mündet. Neuzugang Alexander Wanat spielt den Werther mit expressiv, gellendem Ausdruck und ungehemmt, markanter Körperlichkeit. Ob er den Werther in affektierten Leserposen darstellt, als durch den Theaterraum springenden Affen oder Wein vom Boden leckenden Hund. Und singen kann er auch noch. Wieder einmal ein gekonntes Händchen für die Musikauswahl beweist in dem Kontext erneut Malcolm Kemp. Auch Kostüme und Bühne von Yassu Yabara überzeugen. Ausdruckslose Kleidung der Dorfbewohner, im Kontrast zum exzentrisch güldenen Selbstmordoutfit des Werthers. Quer über die Bühne hängende Plexiglasscheiben, die je nach Szene neue Deutungsansätze ermöglichen.
Auch dienen sie als Projektionsflächen für Videosequenzen (Video: Luca Fois), mit denen der Werther fast schon neumodisch vloggend sein Selbst ausdrückt. Selbst sein pathetischer Selbstmord wird mitgefilmt. Ist der Werther erstmal tot, fügt Regisseur Hartnagel der Inszenierung noch ein literarisches Essay (starker Monolog: Luana Bellinghausen) des Dramaturgen René Pollesch an. Einen postmodernen Lobgesang auf den alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel. Dessen Kittel keine Geschichte einer Selbstverwirklichung erzählen kann, dessen Selbst „vollkommen unausgedrückt“ bleibt. Und damit im Kontrast zu all den nach Selbsterfüllung trachtenden hippen neuen Regieassistenten steht. Und im Kontrast zu allen selbstdarstellenden, leidenden Werthern. \ cr
5., 11., 19.+26.11.
„Die Leiden des jungen Werther“
20 Uhr, Kammer, Theater Aachen
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