Violetta ist krank. Sie wird den Abend nicht überleben. Jeder im Theater weiß das. Schließlich gehört Giuseppe Verdis 1853 uraufgeführte Oper „La Traviata“, deren Protagonistin Violetta ist, zu den weltweit am meisten aufgeführten musikalischen Bühnenwerken – ein echter Knaller.
Zudem gab es für die Opernfigur Violetta Valery eine real existierende Vorlage: Alphonsine Plessis, die sich später Marie Duplessis nannte. Sie entstammte prekären familiären Verhältnissen, verlor ihre Mutter früh und ihren Vater wenig später.
Dabei verstand sie schnell, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Frau wie sie die einzige Möglichkeit zu Wohlstand zu kommen, darin bestand, sich aushalten zu lassen. Es dauerte nicht lange, bis sich in Paris vermögende Sponsoren fanden, zu denen zeitweise auch der Schriftsteller Alexandre Dumas fils gehörte.
Er setzte ihr mit seinem Roman „Die Kameliendame“ ein literarisches Denkmal. Doch Violetta probt den Ausbruch aus der selbstgewählten Halbwelt in die bürgerliche Existenz. Mit Alfredo, der sie abgöttisch liebt und aus besten Verhältnissen stammt, flieht sie aufs Land. Sie muss allerdings erfahren, dass für sie in Alfredos Welt kein Platz ist.
Seine Familie erwirkt die Trennung des Paares. Zurück in Paris, wendet sie sich, um Alfredos familiären Abhängigkeiten nicht im Wege zu stehen, einem Anderen zu. Es kommt zum Showdown, indem Alfredo, tief verletzt, seinen Gewinn aus einem Glücksspiel Violetta nicht nur vor die Füße wirft, sondern sie förmlich mit Geldscheinen ausstopft – eine bedrückende Szene.
Violettas Krankheit schreitet fort. Das weiße Pulver, das sie von ihrem Arzt bekommt, und das sie sich ständig durch die Nase zieht, hilft ihr nicht mehr. Einsam und verlassen setzt sie sich den goldenen Schuss. In der Todesstunde ist Alfredo an ihrer Seite und träumt mit ihr den hoffnungslosen Traum vom gemeinsamen Lebensglück – Vorhang runter und Taschentücher raus!
Unvermittelt muss man an Pretty Woman Julia Roberts denken, die bei einem Opernbesuch der Traviata mit der eigenen Lebenswirklichkeit konfrontiert wird und auf die Frage, wie es ihr gefallen habe, antwortet: „I almost peed my pants.“ Der Plot hat also Kitschpotenzial.
Regisseurin Ewa Teilmans und Bühnenbildnerin Elisabeth Pedross entgehen der naheliegenden Versuchung zur Opulenz auf radikale Weise und mit einem minimalistischen Bühnenbild. Im Zentrum eines schwarzen Raumes steht ein großer weißer Diskus, der, in Rotation versetzt, unwillkürlich an das „Holländerscheibe“ genannte Spielgerät auf Spielplätzen erinnert.
Man setzt sich drauf und irgendwann treiben einen die Fliehkräfte an den Rand. Das hat durchaus eine sozialdarwinistische Komponente. Nur die Stärksten bleiben obenauf – Opfer wie Violetta fliegen runter. Das reduzierte Bühnenbild legt naturgemäß den Fokus auf die Akteure, die stimmlich und schauspielerisch gefallen. Die Französin Solen Mainguené avanciert zum Star des Abends.
Die ausgesprochen umfangreiche Partie der Violetta und die diabolischen pianissimo-a in der Addio del passato-Arie bewältigt sie in scheinbarer Mühelosigkeit. Auch die Rückkehr Alexey Sayapins an das Theater Aachen ist sehr zu begrüßen.
Seine wohlgefällige Tenorstimme passt sich den vielfältigen Gemütslagen, die die Rolle des Alfredo erfordert, in geradezu idealer Weise an. Bariton Hrólfur Saemundsson aus dem Aachener Ensemble präsentiert einen tadellosen Part als Alfredos Vater. Die musikalische Leitung obliegt Karl Shymanowitz, der Solisten, Opernchor und Extrachor sicher durch den Abend führt und die breit angelegten dynamischen Ressourcen des Sinfonieorchesters Aachen lustvoll austestet.
Inszenierung und musikalische Darbietung erhalten folgerichtig den ungeteilten Zuspruch des Premierenpublikums. \ uh
4., 6., 14., 21.+28.1.
„La Traviata“
verschiedene Uhrzeiten, Bühne, Theater Aachen
www.theateraachen.de
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