Ein Ratsantrag im Zusammenhang mit der zeitweiligen Genehmigung von Wänden für eine Graffitiaktion zum Sommerfest des Atelierhauses war Anlass, erneut über die Zulassung von weiteren legalen Flächen für Sprayer zu diskutieren. Zwischen Kunstwert und Krakelei führen Graffitis ein angefeindetes öffentliches Dasein. Seit der Antike wurden Wandflächen im Straßenraum für meist unerwünschte Äußerungen in Farbe, Kreide, Ritzung oder Plakatierung genutzt, seit über hundert Jahren in exzessivem Maße von der Werbung. Die aber bringt Geld statt Sachbeschädigung. Es soll überprüft werden, ob sie ins Stadtbild passt oder Autofahrer ablenkt. Ansonsten verschaffen sich per Egalhaltung diejenigen Beachtung, die keine Werbe- und Meinungsbekundungsfläche finanzieren können oder wollen, und wenns nur in der eigenen Gruppe ist. Minderheiten, Empörte, religiöse und politische Fanatiker, Verliebte und Pubertierende (Egon ist doof). Solcherlei Ungehorsam und kindlicher Widerstand gegen kindliche Tyrannen, gegen die man keinen Anwalt einschalten kann, gehört zum Erwachsen werden, äußert sich aber zusehends in selbstdarstellerischen und ungelenken Namenskrakeleien, weil Graffiti inzwischen zum Stadtbild gehört. Ortsgebundene und themenbezogene Bilder, wie sie anfänglich Klaus Paier oder Harald Nägeli als Opposition oder Aufschrei gegen Betonwüstenarchitektur anbrachten, sind so gut wie passé. Aber Bildqualität haben die zeitgenössischen Spraywerke mit einiger illegaler Übung und legalen Wettbewerben vor allem in den Metropolen inzwischen bekommen. Ausgehend vom amerikanischen Vorbild, Namenszüge (tags) als Selbstdarstellung und Reviermarkierung in der Stadt zu verteilen, entstanden seit den 70ern mit größeren Projekten (Züge) Teams und rivalisierende Szenen, die sozial isolierte und verrohte Jugendliche familienmäßig einbanden, aber auch strenge hierarchische Regeln einführten. Erstaunlich, dass eine Gruppe älterer Sprayer heute wie in der Galerieszene über Akzeptanz und Qualität von Arbeiten wacht, die inzwischen als farbige Schriftzüge mit 3D-appeal (pieces) oder zumindest als gekonnt verschachtelte Egodekos daherkommen. Bilderreicheres findet sich auf Auftragsarbeiten und den versteckter gelegenenen legalen und illegalen Flächen. Mit der Legalisierung weiterer Flächen verschwindet der Undergroundprotest- und Verbotenheitskitzel und ein lukratives Übermalungsgeschäft. Die Farbenindustrie verdient zumindest mit, denn sie entwickelt inzwischen passende Sprayaufsätze und entfernungsresistente Farben. Das steigert auch die Ausdrucksqualität der Werke, die immer noch zügig und mit situativer Überarbeitung entstehen, bei der das Mauerwerk mitspielt und Dauerhaftigkeit suggeriert, die erwünscht ist, auch wenn die legalen Walls of Fame als Übungsfläche zeitlich befristete Bildkraft versprechen. Leinwände und Bretter sind kein Ersatz fürs Lebensgefühl der Sprayerszene. Technik und Ganzkörpereinsatz lassen sich mit einer Skizze ebenfalls nicht erlernen. Was zählt ist der Respekt für den persönlichen Style. Der besteht oft, aber nicht nur, aus respektabler und schriftnaher Verschachtelungsgrafik mit dekorativen Effekten. Mitunter erscheint der Kanon der Gestaltungsphantasie so eigentümlich eng wie in der Tattooszene und bei aufgemotzten Autos. Um gerecht zu bleiben, zeigt Kalligraphie auch Gattungsgrenzen, aber mehr Phantasie durch längere Tradition. Andere Städte zeigen, dass mehr Freiraum bessere Ergebnisse hervorbringt, aber man muss wohl auch die Plätze kennen, wo gestalterisch interessantes sichtbar wird, um der Szene gerecht zu werden. Wo keine gestalteten Vorbilder sichtbar werden, können Verunstaltungen auch nicht als Szenepeinlichkeiten oder Sachbeschädigungen verdrängt werden. Verdrängung und Tunnelblick lassen einen ja überhaupt nur erträgliche optische Nischen im Stadtbild herausselektieren. Stadtmöblierung und Werbewelt haben so viel Hässliches und Nervendes zu bieten, da kann die Kanalisierung zeitgenössischer Spray- und Gestaltungswut kaum das optische Alltagswirrwarr verschlimmbessern. Oder doch, weil auch „die Szene“die Krakler nicht im Griff hat?
Dirk Tölke
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