Von Sebastian Dreher
Solche Sorgen wünscht sich manch ein Gastronom: Wegen des großen Ansturms haben die Betreiber des Café Kittel Anfang der 80er Jahre ausgelost, wer morgens das Tor aufschließt. Davor beschworen mehrere Dutzend junge Leute bereits lautstark, weswegen sie gekommen waren: „Milchkaffee!“. Der war zu dieser Zeit nämlich noch nicht an jedem Kiosk zu haben, sondern der allerletzte Schrei.
Damals schmorte in deutschen Gaststätten noch vornehmlich Filterkaffee auf den Warmhalteplatten vergilbter Kaffeemaschinen. „Unser Milchkaffee nach französischer Art war der Renner“, sagt Peter Widdra.
Studienbegleitende Kellner
Der heute 64-Jährige hat das Café Kittel 1979 mit fünf Freundinnen und Freunden von dem damaligen Besitzer und Namensgeber Holger Kittel übernommen. „Damals gab es jenseits des Marktes kaum Ausgehmöglichkeiten“, sagt Widdra.
„Die Ponte war eine Geschäftsstraße – abends war da nichts los.“ Da kam das Kollektiv aus studienbegleitenden Kellnern, wie Widdra die bunte Truppe aus Möchtegerngeschäftsleuten nennt, gerade recht.
Nach Aachen mit der Bundeswehr
Er selbst hat damals noch Maschinenbau studiert, doch der Spaß an der abendlichen Arbeit und der Erfolg der Kneipe ließen ihn das Studium kurz vor dem Diplom abbrechen. Geboren wurde Widdra in Starnberg am See in Oberbayern. Im Nachkriegstrubel hat es die Familie erst nach Schleiden, dann nach Viersen verschlagen – nach Aachen kam Widdra durch die Bundeswehr.
Das Café Kittel florierte nicht zuletzt wegen der Bereicherung der Karte durch Leckereien wie etwa französische Croissants. „Im Winter haben wir heißen Kakao mit Sahne angeboten“, erinnert sich Widdra. „Der lief wie Schmitz´ Katze.“ Für die Studierenden der nahe gelegenen RWTH war das Kittel bald die In-Kneipe, aber auch die alternative Linke und alle möglichen Freidenker der Kaiserstadt zählten zu den Stammgästen.
Nie Ärger mit der Obrigkeit
Der Aachener Wandmaler Klaus Paier hat hier eines seiner bekanntesten Bilder gemalt, das „Liebespaar“. Es wurden Antifa-Aktionen geplant, Flugblätter verteilt und Busfahrten zu Demos, etwa gegen den Flughafen West oder Franz Josef Strauß, organisiert. Trotz der politischen Ausrichtung gab es nie Ärger mit der Obrigkeit.
Gerade in der Anfangszeit war das Kittel regelmäßig brechend voll. Wie viele Ehen im Kittel angebahnt oder wie viele Kinder gezeugt wurden, kann Widdra nur schätzen. Eins weiß er allerdings genau: „Ich kenne keinen Laden, in dem so viele schöne Frauen herumliefen – und auch heute noch laufen.“
Freude auf den Ruhestand
Widdra betrieb noch einige andere Läden, etwa die „Kasserolle“ in der Bismarckstraße. In einem ehemaligen Abrisshaus eröffnete er eine Kneipe, die es bis heute gibt und die sein Freund Marcus Loos betreibt: das „Last Exit“. Doch irgendwann verließ ihn das Glück. Mit dem am Markt gelegenen „Täglich“ ging er baden, 2002 schrammte er knapp an der Insolvenz vorbei. „Ich hatte die Situation falsch eingeschätzt“, resümiert er heute. Bis heute hat er sich finanziell nicht von dem Desaster erholt.
Im Oktober wird Widdra 65 Jahre und er freut sich auf seinen Ruhestand. Gerade die schweren letzten Jahre haben an seiner Gesundheit gezehrt. Das Kittel wird es allerdings weiterhin geben, Marcus Loos und Peter Niedermayr vom „Last Exit“ übernehmen das Ruder. „So bleibt alles in der Familie.“\
WEITEREMPFEHLEN