Aus der Not eine Tugend machen zu können, ist eine ziemlich hilfreiche Fertigkeit für einen getriebenen Autoren. Der 1932 in Ocean City geborene Journalist und Autor Gay Talese hat dies sehr eindringlich bewiesen, mit seinem fulminanten Portrait „Frank Sinatra has a cold“ (Frank Sinatra ist erkältet), welches er 1966 für den „Esquire“ schrieb (übrigens vollständig im Internet nachlesbar).
Ohne je ein Gespräch mit der mächtigen, einflussreichen und launigen Goldkehle Sinatra geführt zu haben, bringt Talese auf knapp 50 Buchseiten ein wunderbares Portrait zusammen, das alle faszinierenden und diabolischen Facetten des großen Entertainers auffächert. Investiert hat er dafür drei Monate mit intensiven Beobachtungen im Umfeld Sinatras sowie Gesprächen mit der Entourage und der Familie. „Esquire“ erklärte die Reportage 2003 zur besten Geschichte, die jemals im Heft stand. Eine Menge Journalistenschulen nehmen diese (sowie übrigens noch einige andere Reportagen von Talese) zur Grundlage für guten Journalismus, der ganz nebenbei auch den „New Journalism“ und den literarischen Journalismus entscheidend prägen sollte.
Talese steht damit auf einer Stufe mit Hunter S. Thompson, Tom Wolfe und Norman Mailer. „High Notes: Reportagen“ enthält nicht nur diese spannende Geschichte, sondern vielmehr einen Querschnitt durch das Werk von Talese, welches zuletzt mit dem Buch „The Voyeurs Motel“ 2016 hohe Wellen schlug (und 2017 für Netflix als Dokumentation verfilmt wurde). Hier portraitiert Talese den Spanner und Hotelbetreiber Gerald Foos, der jahrzehntelang in seinem „Manor House Motel“ in Aurora, Colorado, die Gäste beim Liebesspiel observierte und die Beobachtungen schriftlich festhielt.
Foos zog Talese im Jahr 1980 ins Vertrauen und übermittelte ihm über Jahre hinweg präzise Aufzeichnungen, die Talese erst 2016, nach zähen Verhandlungen mit Foos, zusammen mit einem Psychogramm des Autors veröffentlichen durfte. Nach einem Vorabdruck im „New Yorker“ wurden allerdings Zweifel am Wahrheitsgehalt von Foos Geschichten laut (u.a. geht es auch um einen Mord im Motel, zu dem die Polizei in Aurora keine Unterlagen hat), auch weil dieser das Hotel zwischen 1980 und 1988 gar nicht besaß. Talese distanzierte sich daraufhin von seinem eigenen Buch – der Umgang mit der Wahrheit wird eben komplizierter, je berühmter man selbst ist.
Was seinem Ikonen-Status letztlich auch nicht schaden wird. Es wirkt auf eine erfreuliche Weise antiquiert, wie ausführlich, manierlich und pointiert Talese dem Leser Personen wie den Sektenführer Charlie Manson, die Opernsängerin Marina Poplavskaya oder Popstar Lady Gaga näherbringt. Talese zeigt Einfühlungsvermögen und großes Erzähltalent, welches heute, auch durch knappe Budgets und hohen Zeitdruck bedingt, nur noch selten das Licht der Zeitungs-Feuilletons erblicken darf. \ kt
Gay Talese
„High Notes: Reportagen“
Übersetzt von Alexander Weber
Tempo Verlag 2018
368 Seiten, 22 Euro
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