Von Martin Schwickert
Nirgendwo auf der Welt wird die Liebe auf den ersten Blick derart zelebriert, kultiviert und verklärt wie im Kino. Umso schöner, wenn ein kluger Regisseur wie Hans Weingartner in seinem bekennenden Liebesfilm genau auf dieses Klischee verzichtet. Liebe auf den ersten Blick in lang gezogenen Schuss-Gegenschuss-Sequenzen gibt es hier nicht, höchstens auf den hundertsten oder tausendsten.
Und dazwischen liegen unendlich viele Worte, denn Liebe – das macht dieser Film in 139 redegewandten Minuten klar – ist in allererster Linie Kommunikation. Nicht umsonst nennt Weingartner als wichtigsten Quell cineastischer Inspiration Richard Linklaters „Before Sunrise“, die Mutter aller Redeliebesfilme.
Als Jan (Anton Spieker) von seiner Mitfahrgelegenheit versetzt wird und Jule (Mala Emde) den unfreiwilligen Tramper an einer Raststätte in ihrem Mercedes-303-Wohnmobil mitnimmt, haben beide eigentlich andere Sorgen. Jule hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist, und Jan ist auf dem Weg ins Baskenland, um seinen biologischen Vater kennenzulernen. Sich mit Unbekannten über eine lange Strecke hinweg im Auto zu unterhalten – das kann eine besonders interessante Angelegenheit sein. Das Moment der physischen Bewegung bringt zumeist auch eine geistige Mobilität mit sich und die Unterhaltung mit einem Fremden ein oftmals überraschendes Maß an Offenheit. Und so reden sich der Politikstudent und die Biologie-Kommilitonin um Kopf und Kragen über das Wesen des Menschen, Kooperation und Konkurrenz, die Chemie der Liebe, die Zukunft der Welt, über Eltern und Kindsein, Utopien und Pragmatismus.
Klingt langweilig, strukturlos, zu wenig am Plot orientiert? Nicht die Bohne! Natürlich muss man sich ein wenig auf den verbalen Reise-Flow des Films einlassen. Aber wie Weingartner hier Philosophie, Naturwissenschaft, Kapitalismuskritik und jede Menge steiler Thesen über die Conditio Humana und die Geschlechterdifferenz mit scheinbar leichter Hand in Dialoge packt, das soll ihm erst einmal einer nachmachen. Mit Spannung folgt man den zunehmend belebten Gesprächen der beiden Protagonisten, weil sich in ihren Rededuellen die Freiheit nicht-vorformatierten Denkens widerspiegelt, an der man im Kino viel zu selten schnuppern darf. Als Roadmovie versteht „303“, dass Reisen eine Daseinsform ist, die Herz und Bewusstsein öffnet. Und genau das ist auch Weingartner mit seinem ebenso entspannten wie intelligenten Reiseliebesfilm gelungen. \
„303“ D 2018 // R: Hans Weingartner S
tart: 19.7. | 139 Minuten | FSK 12
Der Regisseur
Sein Spielfilmdebüt legte Hans Weingartner 2001 mit „Das weiße Rauschen“ vor. „Die fetten Jahre sind vorbei“ von 2004 avancierte zu einem der erfolgreichsten deutschen Arthouse-Filme des Jahrzehnts. Mit „Free Rainer“ schuf der Österreicher 2007 eine bissige Trash-TV-Satire. In „Die Summe meiner einzelnen Teile“ widmete er sich 2012 einem seiner zentralen Themen: dem Kampf um die Freiheit in einer repressiven Gesellschaft. \
Bewertung der redaktion
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