Von Silke Schneider
Anfang der 90er musste man noch jemanden kennen, der einen kennt, der tätowieren kann und wurde dann von einem suspekten Golf GTI-Fahrer in höllischem Fahrstil bis ans andere Ende der Stadt gefahren, wo ein bärtiger Kerl mit Bierflasche einen bat, direkt neben dem Schlangenterrarium Platz zu nehmen, um sich für 20 Mark ein Tattoo stechen zu lassen. Selbst erlebt.
Seitdem haben sich Tattoos immer mehr von ihrem Randgruppen-Image befreit und sind zum Massenphänomen geworden, was in einem langen heißen Sommer wie dem vergangenen mehr als offensichtlich wird. Tätowierungen waren in der westlichen Welt früher meist Sträflingen und Matrosen vorbehalten, weniger bekannt ist, dass schon der Ötzi und Kaiserin Sisi tätowiert waren. Letztere ließ sich noch mit 51 Jahren einen kleinen Anker auf die Schulter stechen. Galten sie damals als Code – für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Rand-)Gruppe oder etwa für begangene Morde – kann man inzwischen nicht einmal mehr von einem Nischentrend sprechen: Heute sind ungefähr 20 Prozent der Erwachsenen in Deutschland tätowiert. Dem renommierten TätowierMagazin wurden nach der Erstausgabe 1994 drei Ausgaben prophezeit, ehe ihm der Stoff ausgehen würde – soeben ist die 270. Ausgabe erschienen.
Auch in Aachen hält der Hype an, an allen Ecken der Stadt ploppen Tattoostudios auf, die Google-Suche ergab im Oktober 18 Adressen in und um Aachen. Einige verschwinden sang- und klanglos wieder, während andere geradezu Kultstatus genießen, der von Warnungen wie „Wartezeit mindestens ein Jahr“ noch genährt wird.
Aber was treibt einen dazu, sich dieser schmerzhaften und teuren Prozedur zu unterziehen?
Dietmar Lürkens weiß es. Er ist es gewohnt, dass Leute sich nach ihm umdrehen und tuscheln. Manchen ist er auch unheimlich, weil sein Körper über und über mit Bildern und Symbolen bedeckt ist. Okay – die Frisur ist auch speziell. Vor zehn Jahren eröffnete er sein Studio „Bloody Tears“, das erste Tattoo stach er sich im Jahr 2000 selbst. „Zum Üben“. Und noch immer überkommt ihn nach einem neuen Motiv auf seiner Haut ein Glücksgefühl, ein Kick, der süchtig machen kann.
Nach seiner Tischlerausbildung und einem Produktdesign-Studium kam er übers Zeichnen an die Kunst am Körper. Tattoos bedeuten für ihn Ausdruck einer Haltung, einer Lebenseinstellung. „Aber es gibt auch Leute, für die ist das nix, schon wegen der Schmerzen“, erzählt er. Er unterscheidet diejenigen, die sich eins oder mehrere an verdeckten Stellen stechen lassen, „bürotauglich“ quasi. Von denen gibt es in Aachen viele, anders als etwa in Köln oder Berlin, da trauen sich mehr Menschen auffällige und offensichtliche Tätowierungen zu tragen, auch an den Händen, am Hals oder im Gesicht. Das sind die, die sich auch über ihre Tätowierungen definieren, die sich als tattoosüchtig beschreiben und denen schon das Surren der Nadeln einen wohligen Schauer verursacht.
Gibt es Stellen, die für Dietmar tabu sind? „Nein, ich tätowiere überall hin, wenn ich das Gefühl habe, dass der Kunde die Tragweite erfasst. Aber wenn ich merke, dass die Entscheidung unüberlegt gefällt wurde, dann empfehle ich eine Alternative.“ Nur bei Tätowierungen im Genitalbereich staunt selbst er schonmal über die Wünsche seiner Kundschaft. Manche politischen Motive wie Hakenkreuze oder ähnliches sind allerdings ein No-Go.
Seine Arbeit verlangt ihm höchste Konzentration ab. „Das muss Berufung sein, kein Job,“ so sieht er seinen Beruf, „und man muss mit der Öffentlichkeit leben können, ich werde überall erkannt und angesprochen.“ Die Verantwortung für ein Kunstwerk zu haben, das ein Leben lang bleibt, empfindet Dietmar Lürkens immer als Ehre und Vertrauensbeweis seiner Kunden. Umso mehr freut er sich, wenn die Voraussetzungen fürs Stechen stimmen: „Ideal sind ungefähr 20 Prozent Körperfettanteil, ist jemand sehr dünn oder zu dick, wird es schwieriger. Man kann an der Haut viel ablesen, ob jemand genug trinkt oder gesund ist zum Beispiel.“„
Tut das nicht ganz schön weh?
Wie das Stechen der Farbe unter die obersten Hautschichten in die sogenannte Lederhaut – etwa 10.000 Stiche pro Minute – empfunden wird, ist sehr unterschiedlich. Am besten kommt man satt und ausgeschlafen zu seinem Termin. Stress, die Einnahme von Drogen oder gerinnungshemmenden Medikamenten hingegen machen das Tätowieren für beide Seiten unangenehmer. Die schmerzhaftesten Stellen sind der Fußspann, Kopf und Kehlkopf und auch die inneren Oberschenkel und Handgelenke. Dietmar kann bestätigen, dass Frauen die Schmerzen meist besser ertragen, als Männer. „Stell ich mir ähnlich vor, wie beim Kinderkriegen. Man freut sich ja auf das Ergebnis, vielleicht wird bei Frauen da was Spezielles im Körper ausgeschüttet“, so seine Überlegung.
„Bloody Tears“ hat sich in Aachen etabliert, es kommen viele Stammkunden, die Dietmars grafischen Stil schätzen. Jeder Tattookünstler hat seine eigene Handschrift, die Studios sind meist für eine bestimmte Richtung bekannt wie etwa Retromotive, Dotwork, Black-and-Grey, abstract oder graphic. „Nur gute Porträts kann in Aachen keiner“, meint er. Die Konkurrenz unter einander ist hart. Kein Kollegenstammtisch also? Da kann er nur lachen. „Aus Osteuropa kommen gerade echte Künstler, besonders aus dem Bereich Hyperrealismus.“ Dazu kommt erschwerend, dass die Berufsbezeichnung des Tätowierers nicht geschützt ist, auch ohne Erfahrung und Können kann jeder sich so nennen.
Der DOT, der 1995 gegründete Verein „Deutschlands Organisierte Tätowierer e.V.“, hat zusammen mit Spezialisten, der Presse, den Gesundheitsämtern und den entsprechenden Ministerien Standards und Richtlinien in den Bereichen der Hygiene und Studioeinrichtung erarbeitet. Der Verein setzt sich für Qualitäts- und Erfahrungsaustausch zwischen den eingetragenen Studios ein, die rund 100 Mitglieder möchten den Kunden einen Überblick über qualitätsüberwachte Tattoostudios bieten und eine klare Abgrenzung zu unprofessionellen und unseriösen Anbietern schaffen. Für Studiobetreiber bietet er unter anderem Hygieneseminare und verschiedene Vordrucke zum Download an. Eine offizielle Ausbildung konnte der Verein bisher nicht durchsetzen, für den Beruf des Tätowierers oder der Tätowiererin existieren keine gesetzlichen Vorgaben, manchmal sind die Betreiber nicht einmal versichert.
Wie geht’s weiter?
Ob Bubble Tea oder Bauchpiercing, viele Trends verebben bald wieder, wie sieht es in der Tattooszene aus? „Im Moment wollen die Leute richtig große Sachen, ganzer Arm, ganzer Rücken, die Frauen oft an den Beinen. Ich schätze, die Nachfrage wird sich noch mindestens zehn Jahre halten,“ so Dietmars Prognose. Eine eigene Fachmesse hat Aachen inzwischen auch: Andreas Coenen vom renommierten Studio „The Sinner and the Saint“ veranstaltete 2018 zum dritten Mal die Kaiserstadt Tattoo Expo mit internationalen Tattooartists, Workshops und zahlreichen Besuchern, die mit frisch gestochenen Kunstwerken nach Hause gingen und sicher bestätigen würden, dass Glück manchmal doch käuflich ist. \
Privat Sache
Tätowierungen sind Privatsache, in vielen Branchen aber unerwünscht. Polizisten dürfen dezente, aber keine diskriminierenden oder politisch heikle Motive an den Unterarmen tragen, Soldaten in Uniform sollen sichtbare Tattoos „in geeigneter und dezenter Weise abdecken“. \
Tattoo sichern
Charles Hamm gründete den Service „Save My Ink“. Wer seine Tattoos posthum konserviert haben möchte, informiert rechtzeitig die gemeinnützige Organisation NAPSA. Wenn die Zeit des Tattoo-Trägers gekommen ist, meldet diese sich beim Bestattungsinstitut, um das betreffende Stück Haut zu entnehmen. Nach drei bis sechs Monaten schickt NAPSA das konservierte Tattoo dann an die Familie des Verstorbenen. \
Facebook Bloody Tears Team
Website Kaiserstadt Tattoo Expo
Website DOT e.V.
WEITEREMPFEHLEN