Von Dirk Tölke
Das Bonnefantenmuseum in Maastricht und die Artco-Galerie in Aachen zeigen Arbeiten einer selten gelingenden Zusammenarbeit zwischen dem Zeichner Hans Lemmen und dem Fotografen Roger Ballen, die in atmosphärisch naher Kombinatorik beider Bildvokabulare in ihrem Einzelstil zu dichten Collagen einer schmerzvollen Wirklichkeitsinszenierung humanoider Existenzen kommen, die nurmehr Teil der Naturgeschichte sind.
Hatte Roger Ballen in seinen vorhergehenden Fotoserien schon die weiße Herrenrasse im Südafrika der Apartheid entthront, indem er die Generation der Degenerierten im Ländlichen und Menschen in monströser Verlorenheit zeigte, so steigerte er die Verkapselung solcher Existenzen jenseits eines medial tosenden Materialismus als schützbedürftig ihren blanken tierhaften Instinkten ausgelieferte, durch inszenierte Fotografie mit archaisierten Zeichenwelten ergänzter klaustrophobischer Bühnenräume (Gefängnisse, Sanatorien). Er fotografiert analog, scannt heute nur die Negative ein und kombiniert seine Collagen und Bühnenkulissen einer grotesken Welt mit Zeichnungen auf Glas.
Hans Lemmens durch künstliche Patina zeitverloren archaisierte Zeichnungen und figurative Plastiken sind ebenfalls abseits jeglicher Moden von grundsätzlicher Natur und beschäftigen sich in archetypisch poetischer Morphologie mit Mensch, Tier, Bäumen und Behausungen. Er inszeniert in zivilisationsarmen Landschaftsräumen, teils von Hochspannungsmasten der arkadischen Ödnis entrissen. Spuren, Kratzer, Einzeichnungen, Ausschneidungen und Überlagerungen erwirken seine Bildfindungen.
Partnerschaft
Mit dem Zeichner und Bildhauer Hans Lemmen, den Roger Ballen 2012 in Sittard während einer Ausstellung kennenlernte, ergab sich über die jeweiligen Interessen für Geologie und Archäologie eine Affinität der Bildwelten. In einem Austausch ihrer Bild-Vokabeln fanden sie eine gemeinsame Sprache, die sie wie ein Instrument spielen lernten. Eigentlich klassisch, dass man sich formal nachahmend in der Natur und bei anderen Künstlern bedient. Zeitverläufe, Felsbilderarchaik und Tiefenschichten durchdringendes Interesse an der verirrten menschlichen Seele, Respekt vor dem Tier und die Tendenz zur ungeschönten Konfrontation mit dem hoffnungslos absurden und irrationalen Bestand der Welt führen in beiden Bildwelten zu einer Beschreibung der Psyche des „Tieres Mensch“, meist als waidwundem Humanoiden. Sorgsame, gestalterisch ausgetüftelte, aber ohne ästhetische Effekte auskommende Mischungen aus Freiheit und Struktur in den Bildthemen verweisen auf Abwesenheit von sozialer Kontrolle, auf Regellosigkeit, Anarchie, Verfall der Ordnung und der geistigen Gesundheit.
Was ist der Mensch, was kann er sein?
Ihr mehrdeutiger Ausstellungstitel „unleashed“ (von der Leine gelassen, ungezügelt) lässt an Hundehatz denken und an enthemmte Individualität, die der genetische Zufall und das soziale Umfeld mit sich bringt. Ihre Beschreibung einer auch mit Degenerierten bevölkerten Zivilisation und ihrer „Kollapseralschäden“ inszenieren den Aberwitz in gemessenen Überzeichnungen und pedantisch konstruierten Widersprüchlichkeitsszenarien ohne Symbolismus. Verstörung und Komplexitätswillen (Ballen) trifft auf Verdüsterung und reduzierte Konfrontation (Lemmen) und kompaktiert „be-engstigend“ und grausam real, wie ausgeliefert man dem Zufall ist und den instinktgesteuerten Affekten. Überlegungen zur Überlegenheitsfrage. \
bis 22.7.
Roger Ballen „Alter Ego“
Artco Gallery
artco-art.com
bis 2.12.
„Unleashed“ – Roger Ballen, Hans Lemmen
Bonnefantenmuseum, Maastricht
www.bonnefantenmuseum.nl
Roger Ballen
Roger Ballen ist 1950 in New York geboren und lebt und arbeitet seit den 1980ern im südafrikanischen Johannesburg. Er studierte Psychologie und Geologie. Interesse an Fotografie weckte wohl seine bei MAGNUM arbeitende Mutter. Er schuf Fotostrecken und Bildbände zur weißen Unterschicht und den Unterprivilegierten in Südafrika. Hans Lemmen wurde 1959 in Venlo geboren und studierte an der Akademie of Applied Arts in Maastricht. Er arbeitet als Bildhauer und Zeichner. In Bilzen hat er sein Bauernhaus-Refugium. \
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