Von Peter Hoch
AIDS. Das ist 1990 eine weltweit wütende Seuche, deren Opfer nicht nur Schmerzen und Tod erleiden müssen, sondern zusätzlich mit Stigmatisierungen und Anfeindungen durch ihre Mitmenschen sowie Untätigkeit seitens Politik und Wissenschaft konfrontiert werden. Mit eben jener Zeit, in der die Epidemie global ausbrach, beschäftigt sich „120 BPM“, dessen Titel für eine hohe Anzahl Herzschläge pro Minute steht und dessen Protagonisten ihre teilweise kurzen Leben schneller führen müssen als andere.
Es sind junge Frauen und Männer mit HIV und ihre Freunde und Angehörigen, die sich im Pariser Ableger der in den USA gegründeten Bewegung „Act Up“ engagieren, die die Zuschauer in der ersten Hälfte des mit 140 Minuten recht langen, aber nie langweiligen Films kennenlernen. Allen voran die bisweilen etwas zu verkopften Gruppenführer Thibault (Antoine Reinartz) und Sophie (Adèle Haenel) sowie der aufbrausende Sean (eine Entdeckung: Nahuel Pérez Biscayart), in den sich der Neuaktivist Nathan (Arnaud Valois) verliebt.
Bei der fast dokumentarischen Schilderung hitzig-demokratischer Plenardebatten, wie sie angepasste heutige Studierende kaum noch kennen dürften, werden die Hintergründe der Charaktere und die Anliegen ihrer Organisation ausreichend angerissen. Dann folgt in Filmphase B die Bebilderung verschiedener Protestveranstaltungen, die „Act Up“ einst tatsächlich initiierte, um ihren Forderungen öffentlichkeitswirksam bei Politik und Pharmaforschung Nachdruck zu verleihen, mit der eindeutigen Botschaft: Während ihr wegseht, endlos debattiert oder Ergebnisse zurückhaltet, sterben wir! Letzterem Aspekt wird dann im finalen Filmdrittel auf extrem nahegehende Weise Raum gegeben, wenn gezeigt wird, wie einer der Protagonisten Schritt für Schritt vergeht.
Trotzdem ist „120 BPM“ kein dröges, rein pessimistisches Dokudrama, sondern strotzt nur so vor Kämpfergeist, Leidenschaft und Liebe, zumal das Wissen um den heutigen Stand der Dinge auch latent hoffnungsvolle Gedanken zulässt. Für Frankreich dient das in Cannes in diesem Jahr unter anderem mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Werk als Bewerbung für die Oscars 2018 als bester fremdsprachiger Film.
Außerdem ist es einer von fünf Finalisten für die Hauptkategorie des Europäischen Filmpreises 2017, der am 9. Dezember in Berlin verliehen wird und bei dem für die beste männliche Hauptrolle auch Sean-Darsteller Nahuel Pérez Biscayart neben Größen wie Jean-Louis Trintignant und Colin Farrell zur Wahl steht. \
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