Von Belinda Petri
Mit Nancy Graves ist es wie einem Musiker, der einen Bombenhit landet und die nächsten 30 Jahre immer wieder das gleiche Stück spielen muss – obwohl er inzwischen ganze Opern, Techno-, Metall- und Folksongs entwickelt hat. Ja, Nancy Graves ist die mit den Kamelen. Die erste umfassende Retrospektive im Ludwig Forum zeigt nun, was die Künstlerin außer den Zotteltieren zu bieten hat.
Nancy Graves (1939-1995) zählt zu den bekanntesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, vor allem durch ihre Kamelskulpturen, wie das Mongolische Trampeltier und das Kenia Dromedar, Highlights der Sammlung Ludwig.
Erstaunlich, dass es mit „Nancy Graves Project & special guests“ erst jetzt zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Künstlerin und ihrem vielschichtigen Werk, begleitet durch Werke namhafter Wegbereiter und Zeitgenossen, kommt.
Graves bewegte sich in den 60er Jahren in der Künstler-Clique um Chuck Close, Robert Smithson, Eva Hesse, Yvonne Rainer und Richard Serra, den sie von der Yale-Universität kannte und mit dem sie mehrere Jahre verheiratet war. Mit ihm bereiste sie 1965/66 Europa – Paris und Florenz – die klassischen Referenzpunkte auch für amerikanische Künstler.
Lagen ihre künstlerischen Anfänge in der Malerei, von Matisse geprägt, widmete sich Graves bei der Rückkehr nach New York neuen Themenfeldern: In Italien hatte sie mit der Akribie eines Naturwissenschaftlers begonnen, Tierfelle zu sammeln und Inspiration im Zoo und Naturkundemuseum zu suchen. Fasziniert von den anatomischen Modellen Clemente Susinis, der im 18. Jahrhundert mit seinen lebensechten Wachsarbeiten Handwerk und Naturwissenschaft vereinte, experimentierte Graves mit Skulpturen aus gefundenen Gegenständen und wählte schließlich das Kamel als Objekt ihres künstlerischen Schaffens.
„Nancy Graves hat aus der Frage „Was ist Skulptur heute?“, die Ende der 60er Jahre die Kunstszene beschäftigte, etwas völlig Neues entwickelt.“ sagt Brigitte Franzen, Leiterin des Ludwig Forums. „Es ist ein kulturanthropologischer Ansatz, bei dem es auch um das Verhältnis Mensch-Tier geht. Die realistische Nachbildung steht über dem Original, also einem ausgestopften Kamel, weil Nancy Graves ihre Ideen mit einfließen lässt.“
Als erste Künstlerin unter 35 Jahren präsentierte Nancy Graves 1969 im Whitney Museum New York ihre Kamele in einer Einzelausstellung, 1971 debütierte sie in Europa – in der Neuen Galerie Aachen. Das kunstsammelnde Ehepaar Peter und Irene Ludwig hatte die junge amerikanische Kunst für sich entdeckt und Trampeltier und Dromedar in eine neue Klimazone geholt.
Etwa zeitgleich zur Mondlandung der Amerikaner am 21.7.1969 – das Sinnbild des technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert – fotografiert, filmt und zeichnet Nancy Graves Bewegungsstudien von Kamelen und beginnt, lebensgroße Skulpturen von Kamelen zu erschaffen – nicht als hyperrealistische Nachbildung, sondern als wissenschaftliche Arbeit, als Konstruktion aus unendlich vielen Einzelteilen. „Es geht nicht um „ein Kamel“, sondern eher um „die Summe Kamel“, wenn Nancy Graves die Skulpturen von innen nach außen baut und mit Fellstücken aus verschiedenen Zonen überzieht.“ erläutert Kuratorin Annette Lagler.
Das „Nancy Graves Project“ ermöglicht die Neuentdeckung eines grandios vielschichtigen Œuvres zwischen Astronomie und Paläontologie, Filmtheorie, Feminismus und Performance, Wahrnehmungspsychologie, Verhaltensforschung und Tanz. Mit einer offenen Restaurierungswerkstatt und der Diskussion um den Umgang mit kritischen Kunstwerken wie „Cavepainting“ oder den „Knochen“ – zufällig in der Berliner Gießerei Noack aufgetauchte Skelett-Module von Nancy Graves, die als gar nicht mehr existent gelten, nun aber im Ludwig Forum auf ihre weitere Bestimmung warten. ///
13. 10.-16. 2. 2014
Eröffnung 13.10., 12 Uhr
Nancy Graves Project & Special Guests
Ludwig Forum für Internationale Kunst
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