Der Wiederinbetriebnahme ein Jahr später folgte im März 2014 ein neuerliches Abschalten. Mittlerweile spricht die belgische Atomaufsicht von bis zu 16.000 Rissen – und der Betreiber vom abermaligen Hochfahren im kommenden Juli.
Von Robert Targan
Konkrete Gefahr“, „Belastung“ oder auch „Wind-Szenarien“ – die Worte, die Jörg Schellenberg wählt, lassen erahnen, dass es ihm ernst ist.
Als Mitinitiator des Aktionsbündnisses gegen Atomenergie Aachen möchte er wachrütteln und der aktuellen Bedrohung durch zwei Pannen-Kraftwerke Nachdruck verleihen: Der Reaktor in Tihange befindet sich schließlich gerade mal 65 Kilometer von der StädteRegion entfernt.
Direkt im Herzen des Kraftwerks
„Die Gefahr setzt sich aus dieser geringen Entfernung und den mittlerweile rund 16.000 vorhandenen Rissen zusammen“, verdeutlicht Schellenberg und schickt direkt hinterher, dass diese sich nicht am Außenbereich der Atomkraftwerke befinden, sondern direkt im Reaktordruckbehälter.
Kurzum: im Herzstück eines Atomkraftwerks.
Fukushima als Lehre?
Nunmehr vier Jahre liegen zurück, seitdem es im japanischen Fukushima zur verheerenden Nuklearkatastrophe kam. Bis zu 150.000 Menschen wurden damals evakuiert; viele von ihnen konnten bis heute nicht in ihre Häuser zurückkehren.
Jörg Schellenberg erinnert sich noch sehr gut an die Unfallserie des 11. März 2011 und benennt dieses Ereignis auch als Ausgangspunkt für sein eigenes Engagement.
Demo im Kreis Huy
Damals gingen in Deutschland die Menschen in unzähligen Städten des Landes auf die Straße. Eine Anti-Atomkraft-Stimmung war greifbar.
Damit diese auch im Jahr 2015 nicht verebbt, zog es das Aktionsbündnis Mitte März zur Demonstration in den belgischen Kreis Huy, in dem die Gemeinde Tihange und somit eines der beiden Kraftwerke gelegen ist – mit über zehn Bussen ein beachtlicher Erfolg.
Ein munteres Hin und Her
Blick zurück: Per Ultraschalluntersuchungen kam im Jahr 2012 eine erste Gewissheit ans Licht; 8.000 Risse im Reaktor Doel 3 und 2.000 solcher Defekte in Tihange 2.
Kein Jahr später gab die belgische Atomaufsicht FANC (Federaal Agentschap voor Nucleaire Controle) jedoch bereits wieder grünes Licht und sprach nach eingehenden Untersuchungen von einer 101-prozentigen Sicherheit, sodass die Reaktoren wieder hochgefahren wurden.
Erneut gestoppt
Jörg Schellenberg bringt sarkastisch Ordnung in dieses Gewirr: „Eigentlich könnte man die FANC auch als Außenstelle des Betreibers Electrabel bezeichnen. Egal, ob Atomlobbyist oder Aufsichtsmitglied – Posten werden hin und her geschoben.“
Dazu passt, dass nach neuerlichen Prüfungen der Betrieb abermals gestoppt und bis heute nicht wieder aufgenommen wurde. Die Risse weisen nun eine Länge von bis zu 17,9 cm auf.
Was 40 Jahre gut gegangen ist …
Woher nun aber diese Risse, die im Übrigen von der FANC als „Flakes“ („Flocken“) verbal verharmlost werden?
Laut Electrabel rühren die spröden Fehlstellen aus der Herstellung der Druckbehälter und reichen somit weit zurück in die 1970er Jahre.
Erklärungsansatz gegen sofortiges Aus
Auch hier äußert der Aktivist seine klare Haltung: „Electrabel sagt ganz deutlich, es gebe keine andere Begründung. Das möchte ich auch nicht anzweifeln – für diese Risikotechnologie handelt es sich allerdings um ein äußerst schwaches Erklärungsmuster.“
Das Beharren des Betreibers auf eben dieser Theorie ist zudem schnell erklärt: Wären die Risse offiziell während des laufenden Betriebs entstanden, hätte dies das sofortige Aus für beide Reaktoren bedeutet.
Gefährdung sichtbar machen
Überhaupt scheint bei den Verantwortlichen im Nachbarland absolute Besonnenheit vorzuherrschen – sollten die Fehlstellen tatsächlich bereits seit 40 Jahren bestehen, müsse nicht zwangsläufig eine Gefahr von ihnen ausgehen, so der Tenor.
Mit solcherlei Beschwichtigungen möchte man sich beim Aachener Aktionsbündnis nicht zufrieden geben. Ein Blick auf die Landkarte genügt: Der nächstgelegene deutsche Meiler befindet sich im Emsland und liegt rund 200 Kilometer von Aachen entfernt.
Die lediglich 65 Kilometer bis Tihange hingegen weiß Jörg Schellenberg mit einem einfachen Vergleich zu unterstreichen: „Diese Entfernung entspricht ziemlich genau jener zwischen der Stadt Fukushima und dem dortigen Kraftwerk. Wir könnten also bei den insgesamt drei Reaktoren in Tihange auch von Aachen 1, 2 und 3 sprechen.“
Befürchteter Energiemangel
Noch macht bei der belgischen Energieversorgung der Atomstrom einen Anteil von 49 Prozent aus; zurzeit beschäftigt man sich im Land mit alternativen Quellen.
Zwar ist der Atomausstieg beschlossene Sache, doch ein paar clevere Lücken im Gesetz könnten die Laufzeit weiter verlängern – Stichwort „Versorgungsengpass“.
Panikmache versus Vertrauensrisse
„Stellt man die Analogie zu Japan her, wird schnell deutlich, dass es sich hier um einen massiven Irrglauben handelt“, stellt Jörg Schellenberg klar, „57 Atomkraftwerke wurden damals abgeschaltet und man hat es dennoch bewältigt.“
Es wird sich zeigen, ob diese – so das Aktionsbündnis – Panikmache beim belgischen Bürger greift, oder ob die Risse im Vertrauen ebenfalls über die Jahre gewachsen sind. \
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