Du blickst im Buch aufs Jahr 1999 zurück – was denkst Du heute über den Thorsten Nagelschmidt von damals?
Den finde ich interessant, um es mal ganz uneitel zu sagen. Ich befand mich 1999 in einem desolaten Zustand – eine Zäsur, bei der es in viele verschiedene Richtungen hätte gehen können. Ich habe meine Tagebücher aus diesem Jahr komplett transkribiert, und das war absolut kein Spaß. Oft wollte ich mein 22-jähriges Ich am Kragen nehmen und kräftig schütteln.
Du hast Dich also auf die Suche begeben, Menschen von früher getroffen und befragt. Wie fielen deren Reaktionen aus?
In erster Linie war ich überrascht, dass fast all meine damaligen Bekannten einem Treffen zugestimmt haben. Arbeitskollegen, Vermieter und Freunde, die ich teilweise seit 1999 nicht gesehen hatte. Zu Beginn der Gespräche habe ich manchmal eine gewisse Skepsis vernommen – fragende Blicke à la „Wieso machst Du nicht einfach eine Therapie?“ (lacht). Andere wiederum wirkten so, als hätten sie 16 Jahre nur darauf gewartet, dass endlich mal einer kommt und genau diese Fragen stellt. Da sprudelte es nur so aus ihnen heraus.
Im Buch entfaltest Du ein recht raues Klima …
Rheine ist eine Arbeiterstadt, hat keine Uni und damals war die Bundeswehr einer der größten Arbeitgeber. Die Stimmung war recht prollig und aggressiv. Hinzu kam eine große rechtsradikale Szene. Ein ziemlich roughes Pflaster! Das schlug sich auch auf den nicht selten derben Tonfall der Einwohner nieder.
Passenderweise schreibst Du im Buch, man müsse für Rheine ein Glossar anhängen – wie einst im Roman „Clockwork Orange“.
Meine Freundin hat mir erst kürzlich attestiert, dass man mir meine Herkunft nicht mehr anhört. Ich gestehe aber auch, dass ich dieses raue Klima eine Zeit lang aufregend fand. Das war ein Gefühl der Relevanz, weil es immer um etwas ging. Gerade um 1999 herum hat sich für mich vieles sehr existenziell angefühlt.
Ohnehin ist die deutsche Provinz ein gern gewählter Schauplatz in der Literatur …
Und das zurecht, wie ich finde. Schon früh habe ich eine Band gegründet, Konzerte veranstaltet, ein Fanzine ins Leben gerufen und einen kleinen Mailorder betrieben. Dinge, die ich sicher auch in Hamburg oder Berlin gemacht hätte – aber mit viel weniger Dringlichkeit. Letztlich habe ich nur deswegen Punkrock-Konzerte veranstaltet, weil es in Rheine sonst keine gegeben hätte. Man musste was machen, wenn man sich nicht zu Tode langweilen wollte. \ Das Gespräch führte Robert Targan
12.11.
Thorsten Nagelschmidt:
„Der Abfall der Herzen“
20 Uhr, Raststätte
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