Von Sebastian Dreher
In seiner Freizeit Menschen zu treffen, die man durch sein berufliches Umfeld kennt, ist nichts Ungewöhnliches. Gerd Nohl können bei solchen Gelegenheiten allerdings schon mal Schwerverbrecher begegnen. „Vor Jahren habe ich einmal hintereinander drei Personen getroffen, die ich aus Verfahren kannte“, erinnert sich der 65-Jährige. „Ich bin schnell nach Hause gegangen.“
Keine Berührungsängste
Was nicht bedeuten soll, dass Nohl, der 16 Jahre lang Vorsitzender der Aachener Schwurgerichtskammer war, besondere Berührungsängste hätte. Immerhin haben einige der von ihm ins Gefängnis gesteckten Menschen – darunter Erpresser, Mörder und Vergewaltiger – nach Verbüßung ihrer Strafe bei Nohl Ratschläge für ihr weiteres Leben erfragt und erhalten.
Doch als Richter muss man sich – wie nur in wenigen anderen Berufen – abgrenzen können, frei machen von Emotionen, ein „dickes Fell“ zulegen. „Anfangs nimmt man noch Einiges mit nach Hause“, so Nohl. „Irgendwann nicht mehr.“ Was gar nicht so einfach erscheint angesichts von Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Morden aller Art.
Morde, Entführungen, Kriegsverbrechen
Da gab es den Fall eines Mannes, der seine Freundin unter Alkoholeinwirkung aufgeschlitzt hat, um eine Abtreibung vorzunehmen. Am nächsten Morgen war die Frau tot und es stellte sich die Frage, wohin mit der Leiche. Später hat der Mann seine Ex-Geliebte zerstückelt und die Teile in Plastiktüten gesteckt, um sie im gegenüberliegenden Gillesbachtal zu entsorgen. Unappetitliches Detail: bei der nächtlichen Aktion ist ihm eine Tüte aufgeplatzt, woraufhin der Kopf des Opfers die Straße hinunterkullerte.
Ein anderes besonderes Verfahren war das gegen den Kriegsverbrecher und SS-Mann Heinrich Boere. Zwar wurde der gebürtige Eschweiler in den Niederlanden verurteilt, er lebte jedoch seit 1954 in Deutschland. Anfang 2000 wurde ein neues Verfahren eingeleitet, das schließlich in Aachen landete.
Tom und Sonja – ein emotionaler Fall
Nohl hat auch über Markus Wirtz und Markus Lewendel gerichtet. Gemeinsam hatten die beiden Männer 2003 die Eschweiler Geschwister Tom und Sonja ermordet – eine Tat, die die ganze Nation bewegte und deren Verhandlung dementsprechend schwierig und emotional war. „Zu sehen, wie Angehörige zusammenbrechen, ist immer sehr belastend – auch wenn man jahrelange Erfahrung hat“, sagt Nohl, der selbst Familienvater ist.
Auch wenn die Kindermörder Wirtz und Lewendel geständig waren, viele Angeklagte beteuern bis zum Schluss ihre Unschuld – ein Trend, der immer größer wird. „Früher stand man auf und sagte: ‘Ich war´s!’“, sagt Nohl. „Heute ist es Mode geworden, zunächst nichts zu sagen und später eine mit den Anwälten abgestimmte Aussage zu machen.“
300 Akten zu Tötungsdelikten – also Mord und Totschlag in Ausführung und Versuch – lagern in Nohls Keller. Hätte er nicht zu Beginn seiner Kariere vom Zivil- ins Strafrecht gewechselt, wäre ihm viel Tod und Gewalt erspart geblieben. Bedauert er diese Entscheidung? „Nein“, sagt Nohl ohne Zögern. „Meine Arbeit hat mir viel bedeutet. Ich würde alles wieder so machen.“ ///
WEITEREMPFEHLEN