Schizophrenie auf Mentalesisch
Hybrides Theater von Detlev Glanert
Es sollte sein letzter Auftritt sein, und er schien das zu ahnen. Noch ein letztes Mal tanzt Nijinsky - monumentaler, großartiger und beängstigender als je zuvor. Er inszeniert den Krieg, der auf der Welt soeben beendet war und der in seinem Kopf gerade erst beginnen sollte.
Es war an jenem 19. Januar 1919 als Vaslav Nijinsky die ersten Zeilen seines Tagebuchs verfasste. Knapp sechs Wochen schreibt der Gott des Tanzes wie im Rausch, dokumentiert in Gedankenfetzen seinen Weg in die Schizophrenie und den sozialen Tod. Erfolgskomponist Detlev Glanert (Der Spiegel des großen Kaisers; Caligula) bedient sich dieser mentalen Selbstdarstellungen und experimentiert mit „Nijinskys Tagebuch“ jenseits der Grenzen von Schauspiel, Tanz und Oper. Ein Experiment, das nur teilweise gelingt.
Dabei zeigen sich alle Akteure in Höchstform: In einer einzigen Szene von knapp 100 Minuten zerfließen Schauspieler (Anne Wuchold und Matthias Bernhold), Sänger (Eva Bernard und Martin Berner) und Tänzer (Unita Galiluyo und Felix Bürkle) zu einer hybriden Darstellungseinheit der mentalen Identitäten Nijinskys. Ihre interaktiven, ständig wechselnden Rollen sowie die immer komplexer werdenden Text- und Handlungsaufteilungen zeichnen das verstörende Bild eines zerfallenden, fraktalen Geistes. Perfekt passt dazu die sukzessive Demontage der Bühne (Ric Schachtebeck): Von der mentalen Verdichtung alltagsweltlicher Bezugspunkte bis hin zur finalen Löschung der Bindung zwischen Geist und Lebenswirklichkeit durch den fast unheimlich lautlosen Fall der Bühnenrückwand. Auch das Sinfonieorchester Aachen um Daniel Jakobi präsentiert sich treffsicher und variantenreich. Immer wieder erspielt es Querverweise zwischen den zentralen Spannungen in Nijinskys Gedankenwelt, die in dem nicht mehr zu gewinnenden Kampf zwischen der göttlichen Erhabenheit eines „vernunftbegabten Wesens“ und der triebhaften Körperlichkeit des Menschen als „Raubtier“ ihren Höhepunkt finden.
Bei aller Brillanz der Inszenierung geht „Nijinskys Tagebuch“ jedoch wenig nah. Der Grund dafür ist Glanerts Verzicht auf jegliche Darstellungen aus dem realen Leben des Ausnahmetänzers. Wer Nijinsky nicht bereits kennt, dem wird sein geistiges Innenleben ebenso rätselhaft bleiben, wie sein Genie und sein Verfall in die Schizophrenie — vom Gott des Tanzes bleibt nicht mehr als eine abstrakte Krankheit. Das Problem ist also nicht, dass es keine Handlung gibt; das Problem ist, dass es weder Mensch, noch Genie, noch Nijinsky gibt.
Sven Trantow
Foto: Wil van Iersel
Termine:
2.5., 20 Uhr, 4.5., 18 Uhr, 24.5., 19.30 Uhr, Theater Aachen, Bühne
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