Das „Vierländereck“
Man muss sich schon was einfallen lassen, wenn man ein Ich-in-drei-Ländern-gleichzeitig-Foto von sich bewundern möchte. Entweder man steht mit je einem Bein in Belgien und Deutschland und probiert die unbequemsten Verrenkungen aus, um irgendwie die Niederlande zu berühren. Bei der Gruppen-Variante nötigt man vorzugsweise Familienmitglieder dazu, sich an den Händen zu fassen und stationiert jeden von ihnen in einem Land. Aber es gibt einen kleinen Geheimtipp, wie man mit nur einem Fuß gleich drei Staaten auf einmal abdecken kann. Zwischen Deutschland und Belgien befindet sich ein kleiner Streifen. Der Streifen symbolisiert Neutral-Moresnet.
Nach dem Sturz Napoleons im Jahr 1815, mussten die Grenzen von Preußen und dem Königreich der Niederlande verhandelt werden. Man wurde sich schnell einig — nur über Kelmis brach Streit aus. Da niemand auf die Zinkgrube in Kelmis verzichten wollte, teilte man das Gebiet kurzerhand auf. Nur die Gegend um die Grube erklärte man zu neutralem Gebiet. Damit wurden die damals 256 Einwohner zu einer vollkommen neuen Spezies — den Bewohnern von Neutral-Moresnet. Wirtschaftlicher Aufschwung ließ die Bevölkerungszahl steigen. Schnapsbrennerei und Schmuggel florierten. 1908 beschloss der Arzt Dr. Wilhelm Molly in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt auszurufen. „Amikejo“ — Ort der Freundschaft — sollte die neue Heimat heißen. Ein gewisser Willy Huppermann hatte sogar schon das zukünftige Volkslied komponiert, dass die ortsansässige Bergmannskapelle den Bewohnern bei einer großen Versammlung vorspielte.
Wie wir wissen, ist aus Amikejo nichts geworden. Nachdem das Zinkerz 1895 aufgebraucht war, bestand Preußen darauf, die Gebiete zu erhalten. Im 1. Weltkrieg besetzte Deutschland Neutral-Moresnet sogar. In den Versailler Verträgen von 1919 musste Deutschland endgültig anerkennen, dass die Gebiete Belgien zufallen. Das bedeutete aber auch das Ende für Neutral-Moresnet.
Oliver Wagner
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