Von Dirk Tölke
Kunst lässt sich für Propaganda missbrauchen oder arbeitet dagegen. Insbesondere, wenn sie öffentlich und mit medialer Verbreitung zur Wirkung kommt, etwa als Aktionskunst oder im Internet, zeigt sich die Sprengkraft dieser Ausdrucksform von Wirklichkeitserfahrung und Sehnsüchten. Kunst ist Seismograph des Verhältnisses von Individuum und Masse und von Meinungsbildung und Macht. Die Abwägung von Freiheitsrechten, Akzeptanz von Gegendarstellungen, Bedrängung und Unterdrückung begleiten ihre Geschichte und Ausdrucksformen.
Staatliche Gewalt und Gerichte, Schlägertrupps und Fehlinformationen bestimmen den möglichen Einfluss von Kritik und unerwünschten Lebensentwürfen. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sagte einst Rosa Luxemburg. Das Ringen darum, wo Persönlichkeitsrechte bedroht sind, Profitgier in ihrer volkswirtschaftlichen Wechselwirkung beschränkt werden muss, in Äußerungen Gewalt, Pornographie, Blasphemie und Beleidigung grenzwertig und jugendgefährdend werden, bestimmt die Interessen und die Politik, Rechtsstaatlichkeit und Korruption. In Russland, das seit 2000 wechselhafte Zeiten in der politischen Führung und der wirtschaftlichen Stabilität erlebt hat, wurde und wird das deutlich. Reformansätze, Perestroika, Glasnost und Auflösung der UdSSR stehen Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, mafiöse Strukturen, Oligarcheneinfluss und nicht wirklich lupenreine Demokratie entgegen. Veränderungen und gesellschaftliche Ungleichgewichte müssen austariert oder unterdrückt werden.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Freiheit der Kunst Höhen und Tiefen erlebt, entschieden Gerichte und Schauprozesse mit einem Wechselbad der Urteile. Herausgehoben sind die Geschichte der zensierten Ausstellungen „Achtung, Religion!“ (2003) und „Verbotene Kunst“ (2007). Der Staat ist mächtig im Verdrängen öffentlicher Gegendemonstrationen interessiert und setzt seine Mittel nach einigen Jahren der Offenheit rigoroser ein. Die erstarkte Kirche und alter Adel pochen mit dem Traditionshammer auf ihren Einfluss. Genauso mächtig erscheint der individuelle Mut und Trotz und die flexible Kreativität der Künstler, die durchaus ihrerseits von Gegenkräften propagandistisch genutzt werden. Eine Demokratie bewährt sich darin, dass sie im Idealfall Wege findet, die Offenheit zu bewahren, dass Menschen aus Fehlern lernen und sich entwickeln können, heute anders denken, als gestern und die Tatsache, dass es verschiedene Weltauffassungen und -erfahrungen gibt, nicht als Bedrohung ansehen, weil es nur eine Wahrheit oder irgendeine reine Lehre geben dürfte.
Es gilt, mit einer grundsätzlichen Unsicherheit zu leben. Das ist eine Kunst und daran erinnert sie und das macht sie so lebensnah fruchtbar und toleranzfordernd lästig. Die Kreativität der aus der Dadazeit der 20er und der Aktionskunst der 70er sich speisenden Widerständigkeit der Meinungsäußerung, die mit vergleichbar starken Repressionen zu tun hatten, erprobt die Grenzen der Zensur in karnevalesken Aktionen, Gesangsdemos, Plakataktionen, Kussattacken und Internetforen. Insbesondere die feministische Bewegung hat noch die organisatorische und freiheitliche Power Gegenmeinungen zu formulieren. Die Freiheit der Frauen und der Homosexuellenszene ist ja auch von rückschrittlichem Denken mehr als andere bedroht. Gesellschaft ist eben mehr, als die Medienwirklichkeit erfasst. Da ist die Kunst ein Regulativ und neben Presse und Kirche die sechste Ohn/Macht im Staat.
Es lohnt sich, sich ein Bild zu machen von dis/order und vom inneren Zustand der Kunst in Russland und der Wirklichkeit von Totschweigerei und den lehrreich üblichen Mechanismen der Unterdrückung und der genauso kunstfern überbordenden, aber nicht unterzukriegender Lebendigkeit des Widerstandes. \
bis 18.2.
„dis/order. Kunst und Aktivismus in Russland seit 2000“
Ludwig Forum für Internationale Kunst
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