von Sebastian Dreher
Bevor Simone Holzapfel Feierabend hat, führt sie ihr Weg von den hinteren Büroräumen durch den vorderen Teil des Café Plattform. Dort, wo die Obdachlosen, die Bedürftigen und alle, die das Angebot der Aachener Caritas in Anspruch nehmen wollen, bei Kaffee, Buletten und Kartoffelbrei sitzen, wartet der praktische Teil ihrer Arbeit auf die 45-Jährige.
Praktikum als Aha-Erlebnis
Seit 2002 leitet Holzapfel, heute Mutter von vier Kindern, das Café Plattform, Treffpunkt für Wohnungslose mit Möglichkeiten zur Körperpflege und medizinischer Erstversorgung inklusive 18 Übernachtungsplätzen. Eigentlich wollte Holzapfel die Altenpflege revolutionieren: Mit 18 Jahren machte sie ein Praktikum in einem Altenheim.
Doch nach einem Sozialarbeits-Studium in Mönchengladbach hat die gebürtige Bad Salzuflenerin eine Stelle im Aachener „Don Bosco-Haus“ bekommen, einem Übergangsheim für Männer und Frauen im Ostviertel. „Das war mein Aha-Erlebnis“, erklärt sie im Rückblick.
Respekt vor den Menschen
Wie ins Don Bosco-Haus kommen auch ins Café Plattform Menschen, deren Leben aus unterschiedlichen Gründen in Schieflage geraten ist. Unglückliche Kindheit, Trennungen, Tod, Alkohol, Drogen – oft ist es ein Mix aus allem. „Bei uns zeigen sich die Menschen wie sie sind“, sagt sie. „Hier braucht einem keiner mehr etwas vorzumachen.“
Davor hat sie Respekt. Respekt vor den Menschen und deren Schicksal. Respekt davor, ein Leben am Rand zu führen, jeden Tag Heroin zu spritzen oder sich anderweitig die Rübe zuzuziehen. „Unsere Bewohner haben diesen Weg für sich als Lösung gefunden.“
Kontaktermöglichung als wesentliche Aufgabe
In einer Gruppe von obdachlosen oder anderswie verwahrlosten Menschen macht man sich in Sachen Karriere nichts mehr vor. Dennoch konstruiert sich jeder seine eigene, nicht immer auf Fakten basierende Lebensgeschichte, mit der er besser leben kann. „Fast alle sehen den Grund für ihr Unglück nicht bei sich, sondern bei der Gesellschaft. Viele richten ihren Blick auf die Umstände, nicht auf sich selbst.“
Und noch etwas ist bei den meisten ihrer Schützlinge gleich: „Sie fühlen sich alleine, nicht geliebt und lösen diese fehlende Selbstliebe mit einem Leben auf der Straße. Einen anderen Weg einzuschlagen bedürfte einer Auseinandersetzung mit sich selbst – doch davor haben sie Angst.“ Das Herstellen von Beziehungen ist wichtig, daher sei es eine wesentliche Aufgabe des Café Plattform, Kontakte zu ermöglichen.
Direkter Tonfall und Herzlichkeit
Für ihre Arbeit braucht Holzapfel manchmal ein dickes Fell. „Die Unterschiedlichkeit der Menschen und die manchmal aufkommende Aggression kann einem schon zu schaffen machen“, gesteht sie. „Der Tonfall unserer Kunden ist direkter als anderswo.“ Im Gegenzug gibt es aber auch viel Herzlichkeit und Wertschätzung, gerade unter den Langzeitgästen.
„Vor nicht langer Zeit ist eine Frau gestorben, die viele Jahre bei uns war“, sagt Holzapfel. „Sie hat kaum geredet, hatte kaum Kontakt. Doch bei ihrer Beerdigung merkte man, dass viele an ihrem Leben Anteil genommen haben.“
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